Mal angenommen…

Mal angenommen,

… wir würden keine Angst haben, dass uns etwas fehlt, das wir unbedingt zum Leben brauchen;

… wir müssten nicht fürchten, dass uns jemand mit Kriegen überzieht, unsere Liebsten bedroht und uns ans Leben will,

… wir müssten uns nicht über die Bühnen dieser Welt das Wissen verschaffen, dass wir unersetzbar sind, angenommen, gesucht und geliebt.

Mal angenommen, wenn dies alles so wäre,
dann bräuchten wir keine Banken und Versicherungen,
alle Sicherungsapparate wären überflüssig und wir könnten sämtliche Kriegsarsenale verschrotten, jegliches Konkurrenzgetue würde aufhören und jede und jeder wäre genau in dem geschätzt und für die Gemeinschaft wichtig, was sie und er ist und kann.

Mit solchen Gedankenspielen begann Thomas Morus sein Buch „Utopia“ zu schreiben, das 1516 veröffentlicht wurde. Als ich es vor langer Zeit zum ersten Mal las, war ich fasziniert von der Gesellschaft, die Morus darin entwirft: Die Menschen von Utopia verzichten gänzlich auf Sicherungen, leben aus dem Grundsatz der gleichen Würde aller und schieben das Vertrauen auf das Gute im Menschen nach vorne.

Mich beschäftigt seitdem und immer wieder die Frage, was für mich und für uns die großen Narrative sind, die unser Empfinden und unser Handeln prägen. Momentan finde ich viel Bedrohliches, fast Apokalyptisches in der Großwetterlage: die Kriege werden immer mehr und der Schrei nach noch mehr Waffen auch; die Krisen werden größer bis hin zum Kollaps unseres Planeten und die Angst, v. a. in den jungen Menschen, wächst – zurecht und zugleich auch so, dass sich nicht wenige immer gelähmter und ausgelieferter fühlen. Die neuen Nazis werden so laut und hoffähig, dass es höchste Zeit ist, dass wir anfangen aufzustehen und wirksam verhindern, dass deren menschenverachtende, Demokratie zerstörende Mechanismen erneut Menschen ausgrenzen, abwerten und vernichten.

So richtig es ist, all diesen Krisen ins Gesicht zu schauen, so frage ich mich doch, ob wir dazu die richtigen Narrative wählen, die uns handlungsfähig bleiben lassen. Sind es die heraufbeschworenen Ängste, die uns handeln machen? Ist es das „Jetzt erst recht!“, das uns endlich auf die Straßen gegen Rechts treibt? Woher gewinnen wir unsere Kraft zur Veränderung?

In der Lesung des Ascherdonnerstags finde ich den Text, in dem Mose im Buch Deuteronomium als Vermächtnis an das Volk Israel folgende Worte in den Mund gelegt: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn 30,19b) Das ist keine Rezeptur, aber es ist ein Hinweis, unsere Gedanken und unser Handeln daraufhin abzufragen, inwieweit sie dem Leben dienen. Machen sie uns freier, tiefer, weiter, lebendiger, friedvoller, gelassener …? Im Buch Deuteronomium erfolgt an dieser Stelle der Hinweis auf Gott. Das Volk Israel soll sich überlegen, auf wen es setzt; wem es sich anvertraut, von wem es sich den Shalom erhofft.

Ich merke bei mir selbst, dass mir als erste Antworten auf diese Frage in den Sinn kommt, was wir können, was wir technisch erreicht haben und Gott sei Dank selbstverständlich als Erleichterungen des Alltags genießen. Das alles ist wichtig. Es reicht aber nicht für ein Leben in Frieden.

Mal angenommen, wir könnten anfangen wie in der Utopia bei Thomas Morus‘ einander zu trauen, dass sich das Gute durchsetzen wird. Ich fabuliere weiter und denke mir: Wir würden hoffentlich trotzdem auf die Straße gehen und unsere AnAStimme gegen Rechts erheben. Wir würden trotzdem skeptisch bleiben, ob das Aufrüsten die einzige Strategie ist, in Frieden zu leben.
Aber wir könnten vielleicht auch – ab und zu zumindest und punktuell vielleicht – anfangen auszuprobieren, wie es ist, wenn nicht das Bedürfnis nach Sicherheit allein mein Sprechen und Handeln motiviert. Wie es ist, wenn das Vertrauen, das aus der Hand geben lässt, mein Denken und Handeln prägt; wenn ich anfange zu hoffen und zu glauben, dass die Lösungen nicht auf die Grenzen der eigenen Fähigkeiten eingedampft sind, sondern weitergehen können als meine Phantasie sie zu denken vermag, weil da einer ist, der hält und trägt und einlädt: „Leben und Tod, lege ich Dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben.“ Und weil dieser Gott sich nicht davon stiehlt, sondern da bleibt und aushält und löst.

Auf gute Zeiten, Eure und Ihre Franziskanerinnen sf

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